Sonntag, 24. Juli 2016

Milchgesicht - Von Gattnau in die Welt




 „Wisst Ihr, ob es hier eine Bushaltestelle gibt?“ Ich drehe mich um und sehe in ein Milchgesicht. Der Bursche, der uns diese absonderliche Frage stellte, wir sind in einem winzigen Andendorf auf 3800m mit vielleicht 30 Einwohnern, war ein schmächtiger deutscher Junge nicht älter als siebzehn, vielleicht achtzehn. Blass und mit mit seinem Tramper Rucksack stand er ein wenig verlassen vor uns.
„Wohin willst du denn“ frage ich ihn.
„Weiß ich nicht, ich kenne mich hier nicht so gut aus. Ich spreche auch kein Spanisch und die Leute verstehen mich nicht“
„Wir klettern nur noch die Schlucht hinunter um uns die Sarkophage an zu sehen. In zwei bis drei Stunden sind wir wieder zurück, dann kannst du mit uns bis zum nächsten größeren Dorf fahren, wo es Busse gibt.“
So lange wollte er nicht warten, die Leute in dem Dorf seien ein bisschen komisch. Er wollte lieber weiter laufen.
Wow, der Junge hat Mum. Der Knabe erinnerte mich an meine erste Reise.
Obwohl es sich für einen 15-jährigen Jungen aus Gattnau nicht gehört, weine ich. Ich bleibe einfach sitzen, warte und weine. Warte, dass es vielleicht vorüber geht.
Eigentlich wollte ich gar nicht mehr gehen, nachdem meine Freundin nicht mitkommen durfte, weil ihre Cousine gerade in der Zeit auf Besuch kam als wir unseren Trip nach London geplant hatten. Der Besuch war natürlich kein Zufall, sondern ein abgekartetes Spiel der Eltern meiner Freundin. Sie sind einfach der unendlichen Diskussion mit ihrer 15-jährigen Tochter aus dem Weg gegangen, die garantiert nicht eingesehen hätte, warum sie mit ihrem 15-jährigen Freund nicht alleine nach London trampen darf.
London war gerade mega in. Dort gibt es die besten Konzerte und die ganze Welt trifft sich dort. Im Bravo hatte ich gelesen, dass man in London alles mit Zweipfennigstücken bezahlen kann, weil unsere Zweipfennige genau so groß sind wie die Sixpence Münze in England und in alle Automaten passt.
Ja, eigentlich wäre ich lieber zu Hause bei meiner Freundin geblieben, aber die mußte sich um ihre Cousine kümmern und wir hätten uns eh nur selten sehen dürfen.  Da war auch noch mein Vater, dem ich wahrscheinlich etwas beweisen wollte.  Nicht das er mir den Trip verboten hätte, nein, dazu war er zu schlau, obschon er wie die anderen Erwachsenen auch, von der heutigen Jugend keinen Plan hatte. Er hat trotz der vielen, endlosen Diskussionen, die wir geführt haben und die er immer verloren hat, nicht verstanden, dass sich die Welt radikal, aber auch so was von radikal verändert hat und das wir Jungen unser eigenes Ding machen werden. Sonst ist er eigentlich ganz OK, er wählte halt immer CDU, was soll man da auch sonst erwarten. Was mich aber am meisten ärgerte war, dass  er mich nur alleine  nach London trampen lies, weil er davon überzeugt war, dass ich spätestens in 2 Tagen wieder zurück bin. Das hat er mir zwar nicht gesagt, aber ich wußte es ganz genau. So nicht, nicht mit mir.  Obwohl ich richtig Schiss hatte alleine los zu ziehen waren meine Sachen schnell gepackt. Das Wichtigste, einen Bundeswehrschlafsack und den Parker habe ich mir von meinem Bruder geliehen und eine graue Leinentasche von meinem anderen Bruder. Die wußten zwar nichts von ihrer Großzügigkeit aber das war mir egal. Von einer harten politischen Diskussion wußte ich, die wählen auch CDU. Ein paar von meinen selbst gemachten Batik-T-Shirts, eine ausgefranste Jeans, meine besten Unterhosen, auch ohne meine Freundin konnte man ja nicht wissen was passiert. Immerhin war ich für 4 Wochen nach London unterwegs, wo sich die Hippies von der ganzen Welt treffen und vom Bravo wußte ich, dass da freie Liebe ganz normal ist. Meine Haare waren trotz des Widerstandes meiner Mutter lange genug. Sie bezeichnete mich immer als Beatle, hatte aber keinen Plan, dass das für mich kein Schimpfwort war.
Mit meinem Schild aus Karton, auf das ich groß London gemalt hatte, startete ich meinen Trip. Mein Vater steckte mir beim Abschied noch einen 50er zu. Er sagte es zwar nicht, aber vermutlich dachte er dabei an die Rückfahrkarte.
Ich hatte echt Schiss, gleichzeitig war ich auch unglaublich aufgewühlt, spürte Mut, dickköpfigen Mut in mir aufsteigen, weil ich wusste, jetzt beginnt mein eigenes selbstbestimmtes Leben.
Mein Aufbruch von Gattnau in die Welt.
Mit der Reisetasche über der rechten Schulter, das Schild unter dem linken Arm bin ich nach Kressbronn zum Ortsausgang marschiert. Kaum hatte ich mein Schild hoch gehoben, hat das erste Auto gestoppt.
„Fährst du nach London?“
„Nein, aber bis Ulm kann ich dich mitnehmen“
„Liegt das auf der Strecke nach London“
„Ja“
uns schon warf ich meine Leinentasche samt Schlafsack auf den Rücksitz und sass daneben. Ich war unterwegs nach London.
In der erste Nacht habe ich auf irgend einer Raststätte auf einer Wiese hinter den Parkplätzen gepennt. Am nächsten Tag kam ich zügig bis Hockenheim, dann war erst mal Schluß. Mir war es egal, es war ein wunderschöner Sommertag und nachdem ich schon über eine Stunde auf einen Lift gewartet hatte und langsam von der Mittagssonne müde wurde, habe ich mich neben der Autobahn in die Wiese gelegt, den Kopf auf meiner Reisetasche und habe gepennt. Stunden später bin ich aufgewacht. Im ersten Augenblick war ich völlig irritiert. Es war immer noch richtig heiss, ich spürte die Sonne, aber es war schon stockdunkel. Als ich begriffen hatte, dass es nicht dunkel ist, sondern ich nichts mehr sehen kann, bin ich aufgesprungen und dann stand ich wie angewurzelt da. Der Lärm von schnell vorbei rasenden Autos hinderte mich einfach los zu rennen. Langsam dämmerte mir, wo ich war und das ich nichts mehr sehen konnte. „Warum kann ich nichts mehr sehen.“ Ich wollte schreien aber meine Schreie wären verhalt im Straßenlärm. Los laufen und Hilfe holen habe ich mich nicht getraut. Ich konnte ja nicht einfach auf die Autobahn laufen. Die Angst vor dem überfahren werden hielt mich auf meinem Platz.  Ich weiß nicht mehr wie lange ich wie angewachsen dagestanden bin bevor mich die Panik ergriffen hat und ich mich zitternd vor Angst hingekauert habe. Erst als das Zittern nachgelassen hat habe ich angefangen zu weinen. Gerade noch der Mutigste, ausgezogen aus Gattnau, die Freiheit und die Welt zu erobern, saß ich da wie ein Häufchen Elend und heulte. Als ich mir die Tränen aus dem Gesicht wischte bemerkte ich erst, dass meine Augen ganz dick geschwollen waren und mir dämmerte, dass ich beim schlafen in der prallen Mittagssonne meine Augen verblitzt hatte. Diese Erkenntnis hat mir natürlich auch nicht geholfen. So blieb ich sitzen, weinte und dachte darüber nach, wie mein Leben als Blinder sein würde, falls mich hier überhaupt jemals jemand finden würde. Mein Zeitgefühl hatte ich völlig verloren und nie hatte ich mich so alleine gefühlt. Trotzdem spürte ich, wie  Kraft in mir aufstieg. Trotzige Kraft. Zu heulen hatte ich längst aufgehört, weil ich nichts zu trinken dabei hatte und ich nicht noch mehr Flüssigkeit verlieren wollte. Ich hatte mich auch mit meinem Parker vor der Sonne geschützt, indem ich ihn mir über den Kopf gezogen hatte. Mit fünfzehn und in Gattnau aufgewachsen weiß man nicht wie lange es dauert bis man verdurstet. Ich spürte wie es langsam kühler wurde, das brennen in den Augen nachließ und irgendwann, es war schon dunkel, tauchten die ersten Schatten auf. Ich konnte die Lichter der vorbei rasenden Autos wieder sehen.
„Juhu, ich war nicht blind“.
Trotz der überkochenden Freude blieb ich noch auf meinem Platz sitzen bis ich wieder so gut sehen konnte, dass ich mich traute den Weg über die Autobahn zur Raststätte zu wagen.
„Was hast den Du für ein Scheisszeug gedrückt, Du siehst echt scheisse aus“ Ich hatte zuerst keine Ahnung wovon der Typ in der Toilette der Raststätte spricht. Im Spiegel sah ich, das der Typ recht hatte, ich sah echt scheisse aus. Mein Gesicht war knallrot, meine Augen blutrot und dick geschwollen. Ein paar Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht brachte Kühlung und als ich mein Gesicht mit einem Papierhandtuch vorsichtig abgetupft hatte sah ich etwas, was ich zuvor in Gattnau noch nie gesehen hatte. Der Typ sah irgendwie auch nicht besser aus als ich. In einem Suppenlöffel kochte er über einem Feuerzeug eine Flüssigkeit. Auf dem Waschbecken lag eine Spritze und eine Schnur.
„Was glotzt Du den so blöd. Hau ab.“
Das „hau ab“ war so aggressiv, dass ich abgehauen bin. Beim hinaus gehen schaute ich noch mal zurück, aber der Typ hat mich nicht mehr beachtet, er hat sich gerade die Schnur um den Arm gelegt. Gerne hätte ich noch gewartet um zu sehen, wie er sich die Spritze rein jagt, aber das habe ich mich nicht getraut. Wau, ich war einem echten Fixer begegnet. Die Nacht habe ich in meinem Bundeswehrschlafsack auf dem Grünstreifen an der Hauswand der Raststätte verbracht. Am nächsten Morgen haben mich die Leute in der Raststätte immer noch angestarrt als ich mir einen Kaffe holte. Mein Gesicht und die Augen brannten zwar noch, aber ich konnte sehen. Nach dem Kaffee stand ich wieder mit meinem Schild LONDON an der Strasse, aufgewühlt und unglaublich glücklich. Ich war alleine unterwegs nach London, ich hatte gerade meine Blindheit überstanden, ich bin einem echten Junkie begegnet.
„Jetzt bin ich wirklich erwachsen und keiner von den alten Säcken braucht mir noch kommen, mit dem was sie schon alles erlebt haben und ich keine Ahnung hätte“.


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